Was wir feiern können ...
Mütternacht – Modranecht – Modraneht – Mōdraniht
In der Nacht vor der Wintersonnenwende leitet die Mütternacht am 20.12. die heiligsten Tage der neuheidnischen Julzeit ein. Gewidmet ist sie den Müttern, den Dísen, den
weiblichen Ahnen, den Göttinnen des Landes und der Sippe. Im europäischen Raum findet sich diese Verehrung dann auch wieder im Kult der westgermanischen Matronen, bei den
nordischen Nornen und Vegetations-Göttinnen und im skandinavischen Dísablót resp. Dísting (das aber erst zu Anfang Februar stattfindet), wo es die längste Zeit überlebte und
überliefert wurde. Wie genau unsere Altvorderen die Modraneht begingen, welche Rituale oder Opfer zum Fest gehörten ist nicht überliefert. Verschiedentlich findet sich nur der
Hinweis, dass die Mütternacht durchwacht wurde.
Nordischneuheidnisch ist die Mōdraniht der Frigg geweiht, der Seiðkona und obersten Göttin Asgards, der Schützerin all unserer Wege, der Hüterin der Geheimnisse, der Herrin
von Heim und Sippe, Odins Gemahlin und Beraterin, deren Attribute Schlüssel und Spindel sind. Nur als Impuls, weil dieser Beitrag sonst ausufert: Frau Holle, Hel und die
Perchta könnten regionale Namen bzw. Beschreibungen unserer Göttin Frigga sein. Jedenfalls ist es auch ein der Frigg geweihter Tag, der die Raunächte abschließt: der 2.
Januar, an dem die Arbeit in Haus und Hof nach der heiligen Zeit der Raunächte, in der alles ruht, wieder beginnt.
Im letzten Jahr schrieb ich noch, dass meinem Erleben nach der schützende und kämpferische Aspekt der Ahninnen und Göttinnen für das Jahr 2022 im Vordergrund stünde, hatten
sich doch eindrücklich Frigg als Herrin der Wilden Jagd und die slawische Baba Yaga im Feld gezeigt und zu Unterweisungen gerufen. Heute empfinde ich es so, als sei damals die
Entscheidung der Geistigen Welt gefallen, dass die indoeuropäische Weibliche Kraft sich nicht mehr zurückhält und sich entschlossen hat, sich für uns alle zu erheben, dass sie
sich aufmacht, den Status Quo zu verändern.
Je mehr sich dieses Jahr die Dinge in unserer menschlichen Realität, in Midgard, zuspitzten, umso stärker spürte ich, wie unsere Ahninnen und Göttinnen den Bewegungen und
Initiativen unserer Zeit Kraft geben, die sich für unser aller Zukunft einsetzen: diejenigen, die dem Klimawandel entgegenwirken, die sich für die Ausheilung der Verletzungen
durch das Patriarchat, den Imperialismus und Kolonialismus und die Ausbeutung unserer Mutter Erde und unserer Mitwesen durch das Kind der vorgenannten: den Kapitalismus
einsetzen. Die meisten sind initiiert von Frauen* und alle sind maßgeblich (70% der Aktivist*innen sind weiblich) getragen von Frauen*. Naturgemäß haben nicht alle Bewegungen
alle Aspekte auf dem Schirm, denn so ist gesellschaftliche und politische Arbeit nicht zu stemmen. Aber das alles gehört zusammen, denn eine Welt, in der wir als Spezies eine
Zukunft haben ist eine gerechte Welt; und das bedeutet eine gerechte Welt für alle: für alle Menschen [**] und für alle anderen Wesenheiten ebenso. Die animistische
Weltanschauung kommt zurück.
Das bedeutet nicht, dass die Männer* außen vor sind, nur dass die Energie sich wandeln muss, damit das Große&Ganze sich wandeln kann, damit Heilung möglich wird. Die
toxischen patriarchalen Kräfte müssen versiegen. Wir müssen uns neu ausrichten, Platz machen, Raum halten, zuhören, fühlen. Unsere gelebte Spiritualität ist ein Spiegel
unserer Gesellschaft, der Kultur, in der wir leben. Und andersherum. Sie bedingen einander. So kann die spirituelle Praxis, für die wir uns entscheiden, erheblich zur
Gestaltung unserer Gesellschaft und die Entwicklung unserer Kultur beitragen. Nicht die kriegerischen, herrschsüchtigen Anteile unserer Götter sollten für uns länger im
Vordergrund stehen, sondern die verbindenden, nährenden, lebensfreundlichen Aspekte. Da die nordisch-europäischen Götter und Göttinnen vielschichtige Wesenheiten sind, ist es
nicht besonders schwer, sich darauf zu besinnen: Welchen Aspekt einer Gottheit rufe ich an, wenn ich weiß, dass ihre Antwort meine Welt direkt beeinflusst?
Im letzten Draupnirkreis dieses Jahres haben wir uns dem Thema „Mütternacht und Wandel“ geöffnet. Sind dazu als Gruppe gereist, haben geschaut, zugehört, gefühlt. Die Vision,
die mir geschenkt wurde, mag ich hier mit Dir teilen:
„Ich stehe auf einer riesigen verschneiten Ebene, alles um mich herum glitzert und glänzt von Harsch, der Schnee ist blenden weiß und unberührt. Weit voraus erkenne ich Bäume,
einen Waldrand. Sofort weiß ich, dass dies mein Ziel ist und so stapfe ich los. Nach nur wenigen Schritten ist klar, dass ich um jeden Meter ringen muss – ich sinke tief in
den Schnee ein und die Kälte lähmt mich, mein Herz schlägt zum Zerspringen. Meine Füße sind nackt, laufen blau an und schmerzen unfassbar. Aber etwas in mir treibt mich an,
drängt mich zum Wald und ich will mich zwingen weiterzugehen. Ich will das als Prüfung verstehen, als Beweis meiner Hingabe, ich will dort ankommen. Meine Augen tränen. Ich
bekomme schlecht Luft, es ist einfach zu kalt. Ich gehe in meinen Tod und weiß nichtmal, warum. Was tue ich hier?! Ich fühle die Hand einer Vertrauten auf meiner Schulter und
kann innehalten. Mich selbst betrachtent erkenne ich, dass ich für dieses Unternehmen weder ausgerüstet, noch vorbereitet bin. Ich habe hier nichts verloren. Ich drehe um und
mache mich auf den Rückweg zu meinem Guten Ort in der Anderswelt. Das geht ganz leicht. Das macht sogar Freude. Und meine guten Ahn*innen nehmen mich in Empfang, wärmen mich
auf, sitzen mit mir. „Dieser Ort im Wald ist nicht für Dich“, sagen sie mir. Und: „Nimm Deine Trommel.“
Ich nehme meine Trommel. Sofort bin ich zurück auf der Ebene. In warme Kleidung gehüllt und mit festen Stiefeln an den Füßen. Ich bin viel näher am Wald als vorher und beginne
zu trommeln. Mit dem ersten Trommelschlag werde ich Viele, wehe die Abbilder meiner Person über die Ebene so wie Löwenzahnsamen fliegen. Wir bilden einen gigantischen Kreis,
immer mit einer Personenlänge Abstand zwischen uns. Ich sehe den Wald nun aus allen Perspektiven. Von außen. Wir alle trommeln. Dann beginnt es: Aus allen Richtungen kommen
die Frauen* der Welt herbei, durchschreiten den Kreis, den wir bilden und betreten den Wald. Es ist wie eine Flut aus weiblichen Wesenheiten, die sich über die Ebene und in
den Wald ergießt. Wir trommeln und trommeln, immer mehr Männer* kommen, halten den Kreis und trommeln. Wir hören Rufe und Jubel, Schreie voller Schmerz und Wut, Knurren und
Lachen aus dem Wald. Unbändige Freude durchströmt uns. Dann beginnen die Gesänge.
Wie auf ein Zeichen drehen sich alle im Kreis um, so dass wir nun vom Wald weg in die Ebene blicken. Von dort kommt Dunkelheit auf uns zu, die das Strahlen des Schnees
verschluckt. Wir trommeln lauter, schneller, beginnen zu stampfen und wo wir trommeln und stampfen kann keine Dunkelheit vorbei. Hinter uns schwillt der Gesang an, wird lauter
und lauter, und die Erde beginnt zu erzittern: die Frauen* und Göttinnen* haben begonnen zu tanzen.
Die Erde bebt, schwingt mit dem Tanz der Frauen*. Die Schwingung geht über unseren Kreis hinaus und wo sie entlangläuft, löst die Dunkelheit sich auf. Es ist Frühling. Ich
spüre die Wärme auf meiner Haut, atme das Wunder. Die Ebene ist grün und belebt, tausende Wesenheiten aus tausenden von Clans - Tierleute, Grünkräftige, Steinwesen - schauen
auf uns. Gelassen, ruhig, zustimmend. Der Gesang im Wald ist verstummt. Noch einmal fühlt es sich an wie eine Wasserflut, als die Frauen* den Wald verlassen, unseren Kreis
durchschreiten und zu ihren Orten in der Welt zurückkehren. Ich setze mich zusammen und kehre heim.“ [In einem Extrapost darf ich teilen, was einige Frauen* aus dem
Draupnirkreis in dieser Arbeit erfahren haben.]
In den letzten Jahren bestand mein Ritual zur Mütternacht darin, meine Ahn*innen zu besuchen, sie zu ehren und einfach Zeit mit ihnen zu verbringen - sehr ruhig, sehr brav,
sehr geheuer.
Dieses Jahr werde ich mit ihnen tanzen!
Ich wünsche Dir eine gute Reise durch die Nacht und zu den Müttern Deiner Sippe!
Dein Urs Bärenkräfte Barth
[** gleich welcher nationalen, geografischen oder sozialen Herkunft, gleich welcher Hautfarbe, gleich welchen Geschlechtes und welcher Identität, gleich welcher körperlichen
oder geistigen Fähigkeiten und welches körperlichen Erscheinungsbildes, gleich welcher sexuellen Orientierung, gleich welchen Alters; gleich welcher religiösen oder
politischen Überzeugungen, so lange sie nicht den vorgenannten Punkten widersprechen]
Hinweis zum Bild: KI-generiert im Stile der Malerin Rachel Ruysch (1664-1750)